Dr Adolf Ratzka, Direktor, Independent Living Institute, Schweden
Fachtagung „WOHNEN FÜR ALLE – Teilhabe für Menschen mit Behinderungen
Berlin 14. April 2015
Zu meiner Person
In Bayern aufgewachsen, mit 17 Jahren an Polio erkrankt, seitdem auf Beatmungsgerät, elektrischen Rollstuhl und Hilfe anderer im täglichem Leben angwiesen. Die ersten 5 Jahre nach der Erkrankung lebte ich in Einrichtungen. In den Jahre 1966 bis 1973 studierte ich Soziologie und Betriebsirtschaft an der University of California, Los Angeles. Seit 1973 lebe und arbeite ich in Stockholm, wo ich auf dem Gebiet des barrierefreien Bauens forschte. In den 80er jahren importierte ich die amerikanische Selbstbestimmt Leben Bewegung nach Schweden und initierte und leitete ein Pilotprojekt mit persönlicher Assistenz. Unser Projekt hatte Erfolg und war Modell für das schwedische Gesetz von 1994, das Menschen mit umfassenden Behinderungen zu Geldleistungen für persönlihe Assistenz berechtigt. 1993 gründete ich das Independent Living Institute. Wir wird sind z Z 10 Mitarbeiter, die versuchen, durch Pilotprojekte, Untersuchungen und Ausbildungen, die sozialpolitische Entwicklung in Richtung Selbstbestimmt Leben anzutreiben. Ich bin verheiratet, meine Frau und ich haben eine erwachsene Tochter.
Grundvoraussetzungen für De-institutionalisierung sind barrierefreier Wohnungsbau und Geldleistungen für persönliche Assistenz. Barrierefreier Wohnungsbau erfordert bindende - und nicht freiwillige - Baunormen im gesamten Neubaubereich - nicht nur im sozialen Wohnungsbau. Alle können behindert werden - unabhängig von ihrer sozialen Stellung, wenn sie lange genug leben. In Schweden gibt es seit 1980 bindende Bauvorschriften für Barrierefreiheit in allen Mehrfamilienhäusern mit drei oder mehr Stockwerken. Also stufenloser Eingang, Aufzüge, in denen ein Elektrorollstuhl bequem Platz findet, Schwellen von weniger als 3 cm Höhe, Bad und Küche dimensioniert für Rollstühle. In der Baubransche schätzt man die Mehrkosten auf weniger als 1%. Eine exakte Berechnung ist allerdings schwierig, denn was die Kosten erhöht - grössere Flächen für Bäder und Küchen - wird von den meisten Bewohnern als eine Standarderhöhung angesehen. Das Gleiche gilt für Aufzüge, die das Risiko von Treppenunfällen vermindern und Tausenden von älteren Menschen ermöglichen, länger in ihren Wohnungen zu leben. Seit 1980 ist der barrierefreie Anteil des Wohnungsbestandes in Schweden auf schätzungsweise 20% angewachsen. Das ist eine grobe Schätzung, statistische Untersuchungen dazu habe ich nicht gefunden. In neuen Stadtteilen in Stockholm sind es vernutlich an die 100%. Das bedeutet, dass man seine Nachbarn besuchen kann.
Die andere Voraussetzung zur De-institutionalisierung sind Geldleistungen für persönliche Assistenzdienste. So gut wie alles, das ich in meinem Leben machen konnte, habe ich meinen persönlichen Assistenten zu verdanken. Zuerst in Kalifornien, wo Gelder für Assistenzleistungen Teil meines Stipendiums waren, später in Stockholm. Ohne persönliche Assistenz hätte ich nicht allein ohne Angehörige von München nach Los Angeles ziehen können und von Los Angeles nach Stockholm. Ohne persönliche Assistenz hätte ich nicht studieren oder arbeiten können. Ohne persönliche Assistenz hätte ich wahrscheinlich nicht geheiratet - wer möchte sich an einen lebenslangen Pflegefall binden? Mit Hilfe meiner Assistenten versuchen meine Frau und ich, die in Schweden übliche Aufgabenverteilung innerhalb der Familie anzustreben. Sie hat ihren Beruf mit Terminen und Arbeitsreisen, ich habe meinen. Wenn sie verreist, komme ich trotzdem gut zurecht. Und umgekehrt. Wenn wir zusammen wohin gehen oder verreisen, dann weil wir beide es wollen - nicht müssen. Wir leben seit den 80er Jahren zusammen. Am Anfang überwogen wir kurz, nach Deutschland zurückzukehren, wo wir unsere Familien haben. Aber hätten wir beide in Deutschland unseren Berufen nachgehen können, ohne auf den Stand von Sozialhilfeempfängern sinken zu müssen? Hätten wir ein Kind aufziehen können, ohne dass alle Arbeit an meiner Frau hängen geblieben wäre? Hätten wir mit dem gleichen Grad von gegenseitiger Abhängigkeit/Unabhängigkeit miteinander leben können wie in Schweden oder wäre unsere Zuneigung allmählich in Pflichterfüllung und schlechtem Gewissen erstickt?
Laut UNO Konvention zu den Rechten behinderter Menschen Artikel 19 haben Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht wie andere, mit den gleichen Wahlmöglichkeiten, in der Gesellschaft in Unabhängigkeit und Inklusion zu leben. Wenn Menschen mit umfassenden Behinderungen die gleichen Wahlmöglichkeiten und die gleiche Kontrolle über den Alltag haben sollen, die andere für selbstverständlich betrachten, fallen Heimunterbringung und ambulante Dienste als Alternativen zur persönlichen Assistenz sofort weg. Denn Leben ist nicht nur Überleben. Meine Assistenten helfen mir mit all den Tätigkeiten, die ich selbst ausgeführt hätte, wenn ich nicht behindert wäre: mit meinem Anteil im Familienhaushalt, bei meiner Arbeit, um Freunde zu treffen, auf Reisen, um Haus, Auto und Garten in Schuss zu halten. Dazu benötige ich gute Leute, die gerne für mich arbeiten, was wiederum angemessene Bezahlung vorraussetzt. Ausserdem muss ich meine Mitarbeiter selbst suchen, anheuern, ausbilden und anleiten können. Ich muss der Chef sein, denn ich weiss am besten, wie ich leben möchte. Bei Menschen mit kognitiven oder psychiatrischen Behinderungen müssen Lösungen gefunden werden, in denen Angehörige, Freunde oder Assistenten, denen wir vertrauen, unsere Kompetenzen ergänzen.
Ist es die Tatsache, dass Assistenten uns oft bei intimen körperlichen Verrichtungen unterstützen? Nein, denn in Einrichtungen und bei ambulanten Diensten hilft man uns auch auf der Toilette und in der Dusche. Dienstbetreiber, Sachbearbeiter, Beamte und Politiker, die immer noch in der medizinischen Sichtweise der Behinderung stecken, glauben, dass sich persönliche Assistenz allein um den Körper dreht: Intimpflege, Anziehen, beim Aufstehen und in den Rollstuhl setzen. Die gleiche Behinderung, die gleichen Bedürfnisse. Auf dieses Scbablonendenken stützt sich das Konzept der Wohneinrichtungen: in Erwartung niedrigerer Arbeits- und Pro-Kopfkosten klumpt man uns zusammen mit maximaler Gleichschaltung, minimalem Personalschlüssel und Fliessband-ähnlichen Versorgungsabläufen - in vollständiger Missachtung unserer Einzigart als menschliche Wesen, unserer individuellen Ressourcen und Bedürfnisse, Präferenzen und Vorstellungen. One size fits all.
Persönliche Assistenz ist das totale Gegenteil. Der entscheidende Unterschied liegt in der Individualisierung der Entscheidungen und damit in der politischen Dimension: die Konzentration der Macht in einer Person, des Assistenznehmers. Persönliche Assistenz ermöglicht uns, unsere Assistenzlösung ganz nach unseren eigenen, höchst individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen zurechtzuschneidern. Das ist möglich, weil die Geldleistungen nicht dem Dienstbetreiber sondern uns folgen. So sind wir Arbeitgeber oder Kunde, nicht mehr ein Fall. Subjekt, nicht mehr Objekt.
Persönliche Assistenz setzt die nötige Kaufkraft der Assistenznehmer voraus, um sich als Arbeitgeber oder Kunde diese Macht zu verschaffen. Wie geschieht das in Schweden?
Zur Zeit haben etwa 16,000 Menschen mit umfassenden Behinderungen das gesetzlich garantierte Recht auf Geldleistungen für persönliche Assistenz von der staatlichen steuerfinanzierten Sozialversicherung. Höhe der Zahlungen ist weder von der staatsfinanziellen Lage des Landes noch von Einkommen und Vermögen des Assistenzberechtigten und dessen Familie abhängig sondern einzig und allein vom Assistenzbedarf des Einzelnen. Die Bedarfsbemessung geschieht alle zwei Jahre und legt die durchschnittliche Anzahl der täglichen Assistenzstunden fest, zu der ein Assistenznehmer berechtigt ist - nicht nur für Grundpflege sondern auch für seine Rolle und Teilhabe in Famile, Arbeit und Gesellschaft. Also Assistenzstunden u a für Haushaltsarbeit, für Hilfe mit Kleinkindern, Assistenz am Arbeitsplatz, in der Freizeit, auf Reisen. Im Gegensatz zu den groben Pflegestufen der deutschen und österreichischen Pflegeversicherungen sieht man in Schweden persönliche Assistenz als eine Ausgleichsmassnahme, die den Betroffenen eine gute Lebensqualität sichern soll und deswegen nicht nur auf das Ausmass der Behinderung sondern auch auf die verschiedenen Rollen der Person in Familie und Gesellschaft abgestimmt ist. Die deutsche Pflegeversicherung, wie bekannt, soll nur einen Teil der notwendigen Hilfskosten abdecken. Weil kein Gelderverwendungs-nachweis verlangt wird, führt diess oft zu Schwarzarbeit ohne soziale Sicherheit. Damit bewegen sich viele Assistenzberechtigte und ihre Assistenten am Rande der Kriminalität, was dem Ruf beider Gruppen abträglich ist.
Mein Assistenzbedarf wurde auf 18 Stunden täglich festgelegt. Eine Stunde wird dieses Jahr mit 280 kr (etwa € 30) von der staatlichen Sozialversicherung vergütet. Ich verfüge also über ein jährliches Budget von insgesamt ca € 180,000, deren Verwendung ich nachweisen muss. Mit dieser Summe kann ich meine Assistenten selbst anstellen oder Dienstleistungen von einer der fast tausend privaten Assistenzfirmen oder der Gemeinde kaufen. Die Summe von 280 kr pro Stunde ermöglicht mir, angemessene Stundenlöhne zu bezahlen mit Zuschlägen für Wochenden und Feiertage, voller Sozialversicherung der Angestellten, Verwaltungskosten, Ausbildung und Nebenkosten meiner begleitenden Assistenten wie z B Mahlzeiten, Eintrittskarten oder Flugreisen.
In Schweden gibt es keine Grosseinrichtungen mehr. Etwa 50,000 Menschen leben in Gruppenwohnungen von je höchstens 5 Personen. Im Vergleich mit deren Kosten ist persönliche Assistenz nicht teuerer, laut einer Studie. Vor der Einführung der staatlichen Assistenzgelder im Jahre 1994 waren Menschen in meiner Lage auf die ambulanten Dienste der Gemeinde oder auf spezielle Wohnungen angewiesen, in denen man von einem nahegelegenem Personalraum aus Assistenz bekommen konnte. Zwar lebte jeder in seinen eigenen vier Wänden, aber beide Lösungen waren sehr unpopulär, weil man seine Bedürfnisse ständig den Bedürfnissen des Personals anpassen musste, das man mit anderen teilte.
2008 wurden auf Initiative meines Institutes von Forschern der Universität Stockholm die faktischen Kosten der staatlichen Sozialversicherung mit den hypothetischen Kosten der Gemeinden verglichen: wieviel hätte es dem Steuerzahler gekostet, wenn Assistenzberechtigte nicht Geldleistungen von der staatlichen Sozialversicherung sondern weiterhin Sachleistungen von den Gemeinden bezogen hätten? Das Ergebnis: in den Jahren 1994 bis einschliesslich 2006 wären die Gemeindedienste um mindestens €3 Miljarden teuerer gewesen. Im Durchschnitt waren und sind Gemeindedienste beträchlich teuerer, was mit der Organisation dieser Dienste zu erklären ist. Die zentralistische hierarchische Organisation der Gemeindedienste verursacht nicht nur höhere Produktionskosten sondern auch schlechtere Qualität, was in meheren Forschungsarbeiten und staatlichen Untersuchungen belegt wurde.
Laut einer grossangelegten Untersuchung der Sozialversicherung vor drei Jahren hatten 16% der Assistenzberechtigten eine bezahlte Arbeit. Dazu muss man ihre Familienmitglieder rechnen, die durch die Assistenten befreit, jetzt ihrem eigenen Beruf nachgehen können. Zu diesen Zahlen kommen vor allem unsere Assistenten, die von unserer Arbeit abhängig sind. Die insgesamt 16,000 Assistenzberechtigten beschäftigen zusammen etwa 50,000 Assistenten auf Vollzeitbasis - die gleiche Zahl, die Schwedens grösster Arbeitgeber, die Stadt Stockholm beschäftigt. Damit sind Geldleistungen für persönliche Assistenz ein wichtiges Arbeitsbeschaffungs-instrument - und dazu noch ein kostengünstiges: über 50% der Geldleistungen der Sozialversicherung an die Assistenberechtigten gehen direkt wieder an den Staat zurück als Sozialabgaben und Einkommenssteuer. Unsere Assistenten sind meistens einkommensschwache Menschen: junge Leute zwischen Ausbildung und Arbeitsmarkt, Künstler und andere Freiberufliche und Immigranten, von denen viele von der Sozialhilfe abhängig wären, wenn sie nicht für uns arbeiteten. Ihr Verdienst wird nicht in Villen im Tessin angelegt sondern für Miete und Lebensmittel ausgegeben, was die schwedische Binnennachfrage stimuliert.
In Deutschland und anderen europäischen Ländern übernehmen kirchliche und gewerkschaftliche Wohlfahrtsverbände einen Grossteil der Dienstproduktion im sozialen Bereich. Nicht so in Schweden. Zwar gibt es auch dort Selbsthilfegruppen und Vereine, die von der Arbeiterbewegung oder der Kirche ins Leben gerufen wurden. Aber im Gegensatz zu Deutschland wurden ihre Aufgaben schon früh von den Gemeinden übernommen. In Schweden gab es also keine Wohltätigkeitslobby, die uns Menschen mit Behinderungen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung abgesprochen und sich gegen das Prinzip der Geldleistungen für persönliche Assistenz ausgesprochen hätte. Wieviele wohltätige Betreiber in Deutschland würden befürworten, dass ihre Gelder nicht mehr vom Staat an die Dienstbetreiber sondern direkt an die Assistenzberechtigten ausgezahlt werden? Oder dass ein Heimbewohner, der auszieht, den vollen Betrag mit nach draussen nehmen kann, den der Betreiber für ihn oder sie von öffentlichen Kostenträger bezieht? Darin sehe ich den grössten Widerstand gegen De-institutionalisierung und Selbstbestimmung unserer Gruppe in Deutschland. Die Mittel wären da, aber sie gehen in die falschen Taschen!
The Independent Living movement paved the way: Origins of personal assistance in Sweden
Adolf Ratzka, Independent Living Institute
http://www.independentliving.org/docs7/Independent-Living-movement-paved-way.html
Personal Assistance in Sweden
Kenneth Westberg, Independent Living Institute 2010
http://www.independentliving.org/files/Personal_Assistance_in_Sweden_KW_2010.pdf
Independent Living Institute
Stockholm, Sweden
www.independentliving.org
Adolf Ratzka
adolf.ratzka@independentliving.org