Lasst nicht andere darüber entscheiden, ob euer Leben lebenswert ist!

 

In Schweden haben bisher über 16000 Menschen ihr Leben durch die Pandemie verloren. Dennoch wird hier zur Zeit die Beihilfe zum Suizid für Menschen mit umfassenden Behinderungen und unheilbaren Krankheiten debattiert.
Ich lebe seit über 60 Jahren mit einem Beatmungsgerät. Ich liebe mein Leben.
Lasst nicht andere darüber entscheiden, ob euer Leben lebenswert ist!

Björn Natthiko Lindeblad, ehemaliger schwedischer Unternehmensleiter, buddhistischer Mönch, Autor und Vortragshalter, bei dem ALS diagnostiziert wurde, steht im Rampenlicht der Medien, weil er am 17. Januar beschloss, sein Leben zu beenden. Die Debatte dreht sich um das Recht von Menschen mit unheilbaren Krankheiten und schweren Einschränkungen, ihr Leben zu beenden. Aber welches Recht haben wir auf Hilfe und lebenserhaltende Behandlung, um mit unheilbaren Krankheiten und schweren Einschränkungen zu leben?

Ich bin 78 Jahre alt. Seit über 60 Jahren lebe ich mit einem Beatmungsgerät und einer Atemmaske, benutze einen elektrischen Rollstuhl und brauche die Hilfe meiner persönlichen Assistenten mit fast allem. Im Jahr 1961, im Alter von 17 Jahren, wollte ich mir das Leben nehmen, als ich an Kinderlähmung erkrankte, gelähmt war, nicht mehr atmen konnte und in eine Eiserne Lunge gelegt wurde, eine Art Beatmungsgerät, bei dem ich in einer großen Röhre lag, aus der nur mein Kopf herausschaute. Ich sah mein Leben als ein hoffnungsloses und langwieriges Sterben vor mir. Ich konnte nur noch ein paar Finger bewegen. Wie sollte ich mich da umbringen können? Schlaftabletten in den Backen zu sammeln wie ein Hamster, funktionierte nicht. Was für ein Glück für mich! Ich konnte ja nicht wissen, welche Möglichkeiten mir das Leben bieten würde.

Björn Lindeblad kämpfte für das Recht auf einen ruhigen und sicheren Tod mit Hilfe des öffentlichen Gesundheitssystems. Natürlich sollten alle diese Möglichkeit haben - nachdem sie alle erdenkliche Hilfe erhalten haben, die sie zu einem Leben in Würde brauchen!

Vor der Entscheidung, eine lebenserhaltende Behandlung nicht zu beginnen oder nicht fortzusetzen, muss der behandelnde Arzt gemäß der Rechtsverordnung 2011:7, Kapitel 3, des schwedischen Ministeriums für Gesundheit und Soziales mindestens eine weitere befugte Fachkraft konsultieren und in der Patientenakte u. a. seine Einstellung zur lebenserhaltenden Behandlung sowie die des Patienten und dessen Angehörigen dokumentieren. Aber ist es ebenso beruhigend geregelt, wenn man leben will und dazu eine lebenserhaltende Behandlung benötigt?

Am 6. Januar wurde eine Frau mit umfassenden Behinderungen und Covid mit schweren Atemproblemen in das Südkrankenhaus (Södersjukhuset) in Stockholm eingeliefert. Der behandelnde Arzt war sich nicht sicher, ob sie die lebenserhaltende Behandlung überleben würde, und verweigerte ihr Sauerstoff oder eine Intubation trotz Bitten der Familie. Die Frau starb zwei Tage später.

In Schweden sind Ärzte nicht verpflichtet, die Wünsche nach lebenserhaltenden Maßnahmen von Patienten und ihren Familien zu respektieren. Zu Beginn der Pandemie wurden Hunderte, wenn nicht Tausende älterer Schweden kurzerhand palliativmedizinisch versorgt, ohne Sauerstoff oder Intubation, ohne dazu gefragt zu werden und ohne überhaupt einen Arzt gesehen zu haben! Für ältere und behinderte Menschen scheint das Risiko, auf diese Weise sein Leben zu verlieren, weitaus größer zu sein als das Risiko, länger als erwünscht leben zu müssen.
Viele Menschen mit umfassenden Behinderungen fürchten um ihr Leben vor einer etwaigen Einlieferung mit Covid ins Krankenhaus. Wie beurteilen Ärzte Lebensqualität? Wer ist völlig frei von Vorurteilen? Wie viele Ärzte, die mich nicht kennen, würden mein Leben für lebenswert halten? Deshalb habe ich eine Absichtserklärung verfasst, die auch meine Familie und ein paar enge Freunde unterschreiben werden. Der Text wird meiner Krankenakte beigefügt, falls ich ins Krankenhaus muss:

"Wer mich nicht gut kennt und nur meinen Körper, meine ständige Abhängigkeit von meinem Beatmungsgerät und meinen umfassenden Bedarf an persönlicher Assistenz sieht, kann leicht zu dem Schluss kommen, dass mein Leben schon vor meiner Erkrankung keine Lebensqualität bot und auch nach einer lebenserhaltenden Behandlung nicht bieten wird. Aus meiner Sicht jedoch hatte ich - und habe ich immer noch - ein erfülltes, reiches und spannendes Leben, mit meiner Frau und meiner Tochter, Studien und Arbeit im Ausland als Forscher, Projektleiter, Gründer mehrerer Organisationen, Führer in der Behindertenbewegung auch international, Dozent in vielen Ländern, mit vielen Reisen und langen Auslandsaufenthalten. Und es geht immer noch weiter. Derzeit schreibe ich ein Kapitel für eine internationale Anthologie mit dem Titel "Ageing of the Oppressed".
Die 60 Jahre mit meiner Behinderung haben mir verstehen geholfen, was für mich Lebensqualität ausmacht: Beziehungen, vor allem zu meiner Familie und meinen Freunden, neue Menschen kennen lernen, Glücksgefühle, die ich in der Natur, bei Kunstbetrachtung und Kammermusik erleben kann, meine Arbeit in der Behindertenpolitik, mein Interesse an Literatur und verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen, meine tägliche Meditationspraxis und viele kleine Dinge, die mir zusammengenommen viele Male am Tag Freude bereiten und das Leben interessant und lebenswert machen. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, mir meiner eigenen Vorurteile gegen Behinderung und Altern bewusst zu werden, habe ich viele Jahre, viel Nachdenken und viele Psychotherapiestunden gebraucht.
Ich liebe mein Leben und möchte so lange leben, wie ich nur kann. Deshalb bitte ich die zuständigen Ärzte, meine Situation auch mit meiner Familie und meinen Freunden zu besprechen. Wenn es eine Chance gibt, mein Leben zu erhalten, z. B. mit Medikamenten, chirurgischen Eingriffen, Sauerstoff, Intubation, Tracheostomie, dann möchte ich diese Chance nutzen.”

Alle Menschen mit umfassenden Behinderungen sollten ähnliche Texte schreiben, um schwarz auf weiss klarzustellen, wie wir selbst unsere Lebensqualität einschätzen. Durch die derzeitige Fixierung auf Jugend und Gesundheit und das sich verhärtende gesellschaftliche Klima ist es für andere zu einfach geworden, unser Leben als unwert zu verurteilen.

Dr. Adolf Ratzka, Stockholm