Schweden: Betreuung oder Selbstbestimmung - zur Lage von Menschen mit Behinderungen

Schweden mit seinen 8,5 Millionen Einwohnern erfreut sich des Rufs eines fortschrittlichen Sozialstaats, in dem Menschen mit Behinderungen unter besseren Lebensbedingungen als in den meisten anderen Ländern leben. Internet publication URL: www.independentliving.org/docs4/ratzka96a.html (in German)

Schweden mit seinen 8,5 Millionen Einwohnern erfreut sich des Rufs eines fortschrittlichen Sozialstaats, in dem Menschen mit Behinderungen unter besseren Lebensbedingungen als in den meisten anderen Ländern leben. Zu diesem Ruf hat die günstige wirtschaftliche Entwicklung des Landes während und nach dem Kriege sowie die Reformpolitik der schwedischen Sozialdemokraten beigetragen, die das Land mit nur kurzen Unterbrechungen seit den 30-er Jahren regieren. Im Zuge dieser Reformen wurden die materiellen Lebensbedingungen von alten und behinderten Menschen angehoben, so daß Schweden in der Welt - und vor allem im Lande selbst - als Vorbild auf diesem Gebiet gilt.

So ist z.B. Schweden eines der wenigen Länder mit behindertengerechten Bauvorschriften. Seit 1966 müssen alle neugebauten Arbeitsplätze und öffentlichen Gebäude behindertengerecht gebaut werden. Seit 1977 gelten diese Vorschriften auch für den Wohnungsbau. Alle neugebauten Wohnungen in Mehrfamilienhäuser mit drei oder mehreren Stockwerken müssen über Aufzüge errecihbar sein und von Rollstuhlfahrern bewohnt werden können. Die Kosten für individuelle Anpassungen, wie automatische Türöffner, heb- und senkbare Kücheneinrichtungen werden durch einkommensunabhängige Zuschüsse übernommen. Wegen der geringen Neubautätigkeit der letzten Jahre, der mangelnden Kontrolle und milden Sanktionen sowie den schwachen Bauvorschriften für behindertengerechte Altbausanierung sind jedoch in Stockholm z.B. immer noch etwa 95 % des Wohnungsbestandes nicht rollstuhlgerecht.

Die Entwicklung von gemeindenahen Lösungen für alte und behinderte Menschen anstelle von Heimunterbringung und anderen Einrichtungen ist in Schweden leichter zu vollziehen sein als in vielen anderen Ländern, einmal wegen des höheren Anteils an behindertengerechten Wohnungen und zum zweiten wegen des besser ausgebauten Netzes von ambulanten Diensten. In größeren Gemeinden bestehen rund um die Uhr-Dienste, die es vielen älteren und behinderten Menschen ermöglichen, in ihrer eigenen Wohnung anstatt in einem Altenheim oder anderen Einrichtung zu leben.

Der Integrierung von behinderten Schülern wird großes Gewicht beigemessen und durch Maßnahmen wie behindertengrechten Neubau aller Schulen und Kindergärten sowie der Bereitstellung von persönlichen Assistenten für behinderte Schüler realisiert. Die meisten Schüler mit Behinderungen gehen in die Regelschule. Der Rest besucht Spezialklassen innerhalb der Regelschule. Bei vielen höheren Schulen fehlen jedoch die Voraussetzungen zur Integration von Schülern mit umfassenden Behinderungen. Es gibt einige Regelgymnasien mit angeschlossenem Internat, wo behinderte Schüler aus ganz Schweden untergebracht werden.

Ein Großteil der materiellen Verbesserungen geht auf die schwedischen Behindertenverbänden zurück, die in enger Verbindung mit der sozialdemokratischen Partei ihre Interessen politisch umzusetzen wußten. Die schwedischen Verbände sind auf Grund ihrer relativ guten wirtschaftlichen Lage und langjährigen politischen Erfahrungen stark an internationalen Fragen interessiert, waren z. B. maßgebend an der Gründung von Disabled Peoples International, dem internationalen Dachverband aller Behindertenorganisationen, im internationalen Jahr der Behinderten 1981 beteiligt und verfügen über eine eigene Stiftung, die mit finanzieller Hilfe des staatlichen schwedischen Entwicklungsdienstes den Aufbau von Behindertenorganisationen in der Dritten Welt fördert.

Die neueste Errungenschaft des schwed Wohlfahrtsstaats ist die Assistanzreform. Menschen unter 65 Jahren, deren Abhängigkeit von praktischen Hilfen im Alltag auf 20 Wochenstunden oder mehr eingestuft wurde, erhalten von der staatlichen Sozialversicherung monatliche Beträge, die es ihnen ermöglicht, ihre Assistenzdienste von Gemeinde oder privaten Firmen zu kaufen oder selbst zu organisieren, entweder in einer Genossenschaft oder als einzelner Arbeitgeber. Die staatliche Sozialversicherung wird vom Steueraufkommen finanziert und ihre Leistungen sind einkommensunabhängig. Die Zahlungen decken die vollen Lohn- und Lohnnebenkosten sowie die Verwaltungskosten von Dienstanbieter und Nutzer (etwa die Kosten des begleitenden Assistenten auf Reisen). Verwendung der Mittel muß nachgewiesen werden. Das Gesetz wurde stark von der schwedischen Independent Living Bewegung geprägt. Bei der Parlamentsdebatte zur Abstimmung über das Gesetz erwähnte der Socialminister die Pionierrolle von STIL, der Stockholmer Genossenschaft für Independent Living, deren politischer Kampf um selbstbestimmte persönliche Assistenz ausschlaggebend an der Entstehung der Reform beteiligt war und deren praktische Arbeit mit selbstverwalteter Assistenz als Modell für das Gesetz und seinen Auführungsbestimmungen diente. Daß die Reform von der Independent Living Bewegung entscheidend beeinflußt war, zeigt schon der Name des Gesetzes, "Assistenzreform". Im Gegensatz zum herkömmlichen Begriff "Pflege", der uns als Objekt entmüdigt, prägte die schwedische Independent Living Bewegung den Ausdruxk "persönliche Assistenz", der uns die Rolle des Chefs zuweist.

(Warum die deutsche Selbstbestimmt Leben Bewegung immer noch nicht das Wort "Pflege", wie in "Pflegeversicherung", "Pflegeabhängige" etc., zurückgewiesen hat, liegt m E an der geringen Selbstbestimmung der wirklichen Assistenzbenützer in der BRD - die Mehrzahl der nationalen Vorkämpfer auf diesem Gebiet scheint recht gut ohne tägliche Assistenz auszukommen. Vielleicht läßt sich auch damit der etwas schwache Einfluß der Selbstbestimmt Leben Bewegung auf die sog "Pflegeversicherung" erklären. Jemand, der ohne fremde Hilfe auf die Toilette oder aus dem Bett kommt, kann zu diesem Thema nur schlecht als Expert in eigener Sache auftreten. Selbstbestimmung dagegen gibt Durchschlagskraft. In Schweden verknüpft man inzwischen "Independent Living" fast ausschließlich mit persönlicher Assistenz.)

Ich bekomme manchmal Post von Leuten, die nach Schweden auswandern wollen. Bevor jetzt jemand sich etwas Ähnliches überlegt, bitte erst den Artikel zu ende lesen!

Nach den expansiven, reformfreundlichen 60er und 70er Jahren haben Menschen mit Behinderungen in Schweden für die nächste Zukunft keine nennenswerten materiellen Verbesserungen zu erwarten. Im Gegenteil: In einer Zeit abnehmendem Wirtschaftswachstums, der Steuermüdigkeit, Überwälzung der Sozialleistungen vom Staat auf die Gemeinden und Abbröckeln des Sozialstaats an allen Ecken und Kanten im Zuge der Anpassungen an die bevorstehende Europäische Währungsunion schneiden Menschen mit Behinderungen in Schweden in Bereichen wie Ausbildung, Berufschancen, Einkommen, Wohnverhältnissen, sozialen Kontakten als Gruppe schlechter als ihre nichtbehinderten Mitbürger ab, wie aus offiziellen schwedischen Statistiken hervorgeht. So war es schon immer. Nur, die Kluft zwischen Menschen mit Behinderungen und der übrigen Bevölkerung ist im Zunehmen.

Auf dem Arbeitsmarkt werden Menschen mit Behinderungen systematisch diskriminiert. Nur 38% der Körperbehinderten im Alter von 16-64 Jahren sind erwerbstätig. In der gleichen Altersgruppe in der Gesamtbevölkerung sind 78% beschäftigt. Jährlich werden rund 2 000 Jugendliche direkt nach Schulabschluß zu Frührentnern befördert. Öffentliche Bemühungen, die Arbeitsmarktslage von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, bestehen aus Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen, Zuschüssen zur Anpassung von Arbeitsplätzen und Bereitstellung von persönlichen Assistenten.

Die Einführung einer Anti-diskriminierungsgesetzgebung ist kein ernsthaftes Thema. Diskutiert wird z.Z. allenfalls ein solches Gesetz für den Arbeitsmarkt in Anlehnung eines Gesetzes zum Schutze von Einwanderern, das es seit 8 Jahren gibt. In den bisher insgesamt 150 behandelten Fällen wurde jedoch noch kein einziger diskriminierender Arbeitgeber verurteilt: Die Beweisführung würde verlangen, daß der Arbeitgeber offen zugibt, er habe den betreffenden Bewerber ausschließlich wegen seiner ausländischen Herkunft nicht eingestellt. Ein ähnliches Schicksal ist für das Gesetz gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz von Menschen mit Behinderungen zu erwarten.

Dem Grundgesetz nach darf man Menschen mit Behinderungen benachteiligen. Dort steht nämlich nichts Gegenteiliges. Laila Freiwald, Justizministerin, wurde in der Presse zitiert, sie habe Verständnis für den Restaurantbetreiber, der einer Gruppe von Menschen mit intellektuellen Behinderungen kürzlich den Zutritt verweigerte. Die großen Behindertenverbände sind nur widerstrebend an einer Diskussion über Anti-Diskrimireungsgesetze interessiert. Die Ursache dafür liegt wohl z.T. darin, daß viele Funktionäre nicht selbst behindert sind, daß gut die Hälfte aller Mitglieder in den großen Verbänden volles Stimmrecht aber keine Behinderungen haben. Die wichtigste Ursache dürfte jedoch darin bestehen, daß sich so wenige Menschen mit Behinderungen benachteiligt fühlen. Laut einer Umfrage fühlen sich zwar 35% von jüngeren Menschen mit Behinderungen diskriminiert aber nur 17% der über 50-Jährigen. Die meisten Vereinsmitglieder aber sind über 50.

Die skandinavische Tradition hält nichts von Sondergesetzen, denn deren Existenz an sich - so argumentiert man häufig - würde diskrimierend, ausgliedernd und stigmatisierend wirken. Aber die krasse Wirklichkeit bezeugt, daß diese edle Philosophie unsere Bügerrechte bisher nicht garantieren konnte. Verglichen mit den USA, wo ADA ein solches Sondergesetz darstellt, ist unsere Bewegungsfreiheit bedeutend mehr eingeschränkt. Solche Vergleiche sollte man übrigens in Schweden tunlichst nur im engen Freundeskreis äußern, denn das sozialdemokratisch gesteuerte Land ist empfindlich stolz auf seine sozialen Errungenschaften.

Behindertenfragen sind nach wie vor humanitäre und soziale Fragen. Mit Begriffen wie "Bürgerechte" macht man sich nur als politisch Rechtaußen verdächtigt. Für Bürgerrechte arbeitet man im Ausland, in Schweden sollte so etwas nicht nötig sein, lautet ungefähr die Logik. Menschen mit Behinderungen rechnet man zu den schwachen Gruppen in der Gesellschaft, wie Kinder, Alte, Einwanderer oder Alkoholiker, die der besonderen Obhut des Staates empfohlen werden und den Sonderstatus (und damit auch das soziale Stigma) der Fürsorgebedürftigkeit besitzen. Damit wird der Weg zu ausgliedernden Sonderlösungen (wie Fahrdienste statt behindertengerechten Nahverkehr) und Bevormundung geöffnet.

Es ist schwer, ein faires Bild von Schweden zu vermitteln. Zum einem exportiert man hier gerne den Mythos vom Musterländle mit dem menschenfreundlichen Wohlfahrtsstaat. Zum anderen liegt überall, in allen Ländern, die Versuchung nahe, auf ein anderes Land zu zeigen und zu behaupten, daß was dort möglich sei auch im eigenen Land eingeführt werden müsse. Oft muß da Schweden herhalten. Dabei verläßt man sich nur allzu gerne auf's Hörensagen ohne die Informationsquellen genauer zu kontrollieren.

Also bitte nicht mit der Hoffnung nach Schweden kommen, sich hier mit fetten öffentlichen Geldern in den Ruhestand zurückziehen zu können. Diese Gelder wird es wohl auch nicht mehr lange geben bei diesem internationalem Wettbewerb um die schnellste Abmagerung der Sozialleistungen. Außerdem gibt es hier schon zu viele schwedische Behinderte mit dieser Versorgungsmentalität. Was wir hier bräuchten, sind rüde Raudaubrüder und -schwestern, die sich nicht versorgen, bevormunden und betreuen lassen, sondern ihre Bürgerrechte fordern.

Adolf Ratzka
September 1996