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Selbstbestimmt Leben - selbstbestimmte Sexualität

Voraussetzungen für selbstbestimmtes Leben

Adolf Ratzka



Unsere Gesellschaft sieht Menschen mit Behinderungen nicht als gewöhnliche Menschen mit den gleichen Bedürfnissen auf Achtung, Anerkennung und Zuneigung. Wir werden ständig mit direkten und versteckten Botschaften bombardiert, die uns vermitteln, daß wir andersartige, von der Norm abweichende, hilflose und hoffnungslose Geschöpfe sind, daß unsere Leben nicht lebenswert sind. Wie sollte ich sonst z.B. das zweifelhafte Kompliment interpretieren, das ich einige Male zu hören bekam: "Sie müssen aber stark sein, denn an Ihrer Stelle hätte ich mir schon lange das Leben genommen."

Wir werden als kranke, auf die Hilfe anderer angewiesene Objekte angesehen, zu denen man nett sein sollte. Von Kranken erwartet man nicht, daß sie ein normales Leben führen, arbeiten oder gar eine Familie gründen. In vielen Kulturen sieht man behinderte Menschen als Bettler auf der Straße. In anderen, etwas "fortschrittlicheren" Ländern, mobilisieren wohlmeinende Politiker die Bevölkerung zu steuerfinanzierten Programmen indem sie uns als die "Schwächsten der Schwachen" darstellen. Damit wird uns mehr geschadet als genutzt. Welcher Arbeitgeber, der kompetente Mitarbeiter sucht, möchte schon einen der "Schwächsten der Schwachen" anstellen! Welcher normale Mensch träumt davon, seine Hochzeitsreise zusammen mit einem "unheilbaren Pflegefall" anzutreten!

In den meisten Ländern werden Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen wie Sonderschulen, beschütztenden Werkstätten, speziellen Wohnanlagen - oder gar in eigenen Dörfern, wie in Österreich - von der Gemeinschaft mit der übrigen Bevölkerung ausgeschlossen. Auf diese Weise verwahrt bleibt uns der Wettbewerb mit anderen Menschen erspart, wir wachsen in unserer eigenen geschützten und begrenzten Welt auf. Oft werden wir von unserer Umgebung in den Himmel gelobt wegen normaler Leistungen, die man uns nicht zugetraut hat. Oft müssen wir aber auch das Doppelte leisten als unsere nichtbehinderten Arbeitskollegen oder Konkurrenten bei der Arbeitssuche, um die negativen Vorurteile gegen uns zu überkommen. Selten geschieht es, daß wir und unsere Leistungen nach den gleichen Maßstäben gemessen werden wie die unserer nichtbehinderten Bdeflügel für Frauen, einer für die Männer. Jemand, der Hilfe mit allem braucht, muß sich ganz dem Einsatzplan des Personals unterwerfen, das den ganzen Tages- och Wochenrythmus vorschreibt, vom Aufstehen, Essen, Toilettenbesuch zum Schlafengehen. Ich selbst habe 5 Jahre in einer solchen Einrichtung zugebracht. In einem Gefängnis hätte ich mehr Macht über meinen Körper und über meinen Alltag gehabt. Wer kann schon Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen gewinnen und ebenbürtige Beziehungen aufbauen, wenn man in solchem Maße von anderen abhängig gemacht wird?

Für viele Menschen mit umfassenden Behinderungen, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind, ist die Beziehung mit einem nichtbehinderten Partner oft die einzige Möglicheit, dem Heim oder dem Elternhaus zu entrinnen. Ohne Assistenzdienste bedeutet ein Zusammenleben - von Kinderaufziehen ganz zu schweigen - eine enorme Verantwortung für den nichtbehinderten Teil. Viele potentielle Partner überlegen sich es deshalb zweimal, bevor sie eine Beziehung mit einem behinderten Partner eingehen und sich der - unter solchen Umständen - damit verbundenen lebenslangen Zwangsarbeit verpflichten. Die Gefahr besteht, daß - ohne Assistenzdienste - die Beziehung zu erhöhter und assymetrischer Abhängigkeit führt, die beiden Partnern wenig Spielraum zur persönlichen Entwicklung erlaubt. Die Verschmelzung der Rollen des Partners und des Assistenten kann zum Verzicht auf eigenes Leben und Beruf und zu Schuldgefühlen bei beiden führen.

Ich sprach von den Schwierigkeiten vieler behinderter Menschen - vor allem behinderter Kinder und Jugendlicher - bei der Entwicklung von Selbstwertgefühl, unabhängigem Urteilsvermögen und der Fähigkeit, ebenbürtige Beziehungen aufzubauen. Ich hoffe, es ist uns allen hier klar, daß diese Schwierigkeiten nichts mit der Behinderung an sich zu tun haben, sondern eine Folge der Bedingungen sind, unter denen wir aufwachsen und leben müssen, Bedingungen, die von anderen geschaffen wurden und über die wir meist keinen EinflußÝhaben, Bedingungen, die die Summe der Sozialpolitik von Jahrzehnten darstellen, Bedingungen, die den Stand unserer Gesellschaft spiegeln, ihre Prioritäten, ihr Verständnis und Interesse an dem was Mensch sein bedeutet.

Der sexuelle Mißbrauch von behinderten Menschen ist eine der Folgen dieser Bedingungen. Ich möchte drei Aspekte hervorheben, die meiner Ansicht nach damit eng verknüpft sind: Heimunterbringung von behinderten Menschen, Mangel an persönlichen Assistenzgeldern, und gegenseitige Unterstützung und Beratung durch Kameraden oder "Peer Support", wie es in der Selbstbestimmt Leben Bewegung heißt.

Nochmals also zum Thema der Unterbringung oder Verwahrung vom behinderten Menschen in Institutionen. Es ist bekannt, daß Institutionen an sich sexuellen Mißbrauch fördern. Sexuelle Gewalt und Nötigung von nichtbehinderten Menschen in Gefängnissen, Lagern, in Militär und Internatsschulen sind hinreichend aus Schönliteratur und wissenschaftlichen Arbeiten bekannt. Immer wo Menschen in einseitiger Abhängigkeit und ungleicher Machtverteilung gegen ihren Willen hausen müssen, wird es Leute geben, die ihre Macht auf diese Weise ausnutzen. Es ist zu erwarten, daß Menschen, die auf Grund ihrer Behinderung in Einrichtungen leben müssen, dieser Gefahr in zumindest gleichem Maße ausgesetzt sind.

Der zweite Umstand, der meiner Ansicht nach oft vergessen wird, ist der Mangel an Assistenzdiensten, die für Menschen mit umfassenden Behinderungen zu einem selbstbestimmten Leben unerläßlich sind. Gerade die Tatsache, daß es in vielen Ländern keine oder nur unzureichende Assistenzdienste und kaum behinderten- oder besser - menschengerechte Wohnungen gibt, zwingt viele von uns ins Heim. Eine der Hauptforderungen der Selbstbestimmt Leben Bewegung ist daher, bestehende Heime und Sondereinrichtungen abzuwickeln und allen Menschen Ausbildung, Arbeit und Wohnen draußen in der Gesellschaft zu ermöglichen. Dazu benötigen viele von uns persönliche Assistenzdienste.

Persönliche Assistenz bedeutet, daß Menschen wie ich selbst bestimmen, wer für sie als Assistent arbeitet, mit welchen Aufgaben, wann, wie und wo. Ohne diese Entscheidungen selbst treffen zu können, ist es sehr schwer - wenn nicht unmöglich - ein normales Leben zu führen, gesundes Selbstbewußtsein zu entwickeln und Verantwortung über sein Leben zu übernehmen. Selbstbestimmt Leben heißt nicht, Tätigkeiten ohne die Hilfe anderer durchführen zu können. Das entscheidende Kriterium ist, bestimmen zu können, was zu tun ist, wie es gemacht werden soll und von wem. Nur ich kann entscheiden, wie ich mein Leben gestalten will. Meine Ziele, Vorstellungen und Pläne sind maßgebend. Um sie im Alltag zu verwirklichen, brauche ich die praktischen Hilfen meiner Assistenten. In dieser Hinsicht befinde ich mich in der gleichen Situation wie jeder andere Arbeitgeber. Nur, die Gesellschaft hat Schwierigkeiten, uns als Arbeitgeber - als Chef - zu sehen. Unsere körperliche Abhängigkeit wird automatisch mit emotioneller Abhängigkeit gleichgestellt. Wenn andere uns so einschätzen, wenn wir uns selbst als einseitig Abhängige sehen, werden wir kaum aus dieser Lage der Unterlegenheit heraus unsere Assistenten zu effektiver Arbeit anleiten können und mit persönlicher Assistenz selbst einen Beruf ausüben und gesunde und ebenbürtige Beziehungen mit anderen Menschen aufbauen können.

Schließt die Heime, fordert stattdessen öffentliche Gelder, die uns ermöglichen, persönliche Assistenten in genügendem Umfang anzustellen. In vielen Fällen genügt es, unsere materiellen Bedingungen zu ändern, um damit auch unsere seelischen und zwischenmenschlichen Bedingungen zu verbessern. Aber es wird immer Menschen geben, die zusätzliche Hilfe bei der Bewußtseinsveränderung von Objekt zu Subjekt brauchen, die der Ubergang vom unterdrückten Heiminsassen zum freien, selbstständigen Mitbürger voraussetzt.

Der wichtigste Teil in dieser Bewußtseinsveränderung ist der Aufbau eines eigenen Wertsystems, das nicht von unserer Umgebng abhängig ist. Die Aufgabe ist nicht einfach: in einer Gesellschaft, in der man uns als bedauernswerte Geschöpfe bemitleidet, in der man werdende Menschen im Mutterleib abtreibt, weil sie nicht einer engen Norm entsprechen, in der man uns offen bedroht, beleidigt und uns unsere Bürgerrechte verweigert - also alles macht, um unser Leben als Menschen mit Behinderung zu erschweren - in einer solchen Gesellschaft sollen wir lernen, uns selbst zu achten und uns zu so lieben wie wir sind.

Dieses Ziel zu erreichen, wäre furchtbar schwer, wenn wir es einzeln - jeder für sich - erarbeiten müßten. In dieser Aufgabe brauchen wir die Unterstützung anderer Menschen mit Behinderungen. Wenn wir unsere Erfahrungen und Einsichten mit anderen teilen, wird uns deutlich, daß wir nicht allein mit unseren Schwierigkeiten sind, daß es nicht unser Fehler ist, daß uns solch eine Behandlung zuteil wird, sondern daß es sich um einen Systemfehler in unserer Gesellschaft handelt, den wir zusammen mit anderen Menschen verbessern müssen.

Die gegenseitige Unterstützung in Gruppen von behinderten Menschen hilft uns auch, der Rolle des Opfers zu entkommen, in die wir uns allzu leicht verfangen können. In unseren Gruppen können wir von einander lernen, wie wir unsere Lebensbedingungen verbessern, z.B. mit Hilfe von Assistenzgeldern Assistenten anstellen und uns zu guten Arbeitgebern und Chefs entwicklen können. Durch unsere Organisationen können wir für unsere Selbstbestimmung und unsere vollen Bürgerrechte kämpfen. Dadurch daß wir andere Menschen mit Behinderungen als verantwortungsvolle, liebevolle und warme Personen schätzen lernen, können wir uns gegen die negative und abschätzige Haltung unserer Umgebung impfen.

Sexualitet ist eine Form der Kommunikation, in der man seine Persönlichkeit einem anderen Menschen öffnet. Die Art, in der ich mich darstelle, wird in hohem Maße davon abhängen, wie ich mich selbst sehe. Nur wenn ich mich selbst akzeptiere, respektiere und liebe, kann ich mich anziehend und liebenswert fühlen und Achtung fordern.

Ohne Selbstbewußtsein und Selbstachtung kein selbstbestimmtes Leben. Ohne selbstbestimmtes Leben keine selbstbestimmrüder und Schwestern, Mitschüler oder Arbeitskollegen. Kein Wunder also, daß es da schwer ist, ein gesundes Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein zu entwickeln.

Menschen mit umfassenden Behinderungen, die in ihrem Alltag auf die Hilfe anderer bei solchen grundlegenden Tätigkeiten wie Aufstehen, Anziehen, Waschen und Toilettenbesuch angewiesen sind, sind am meisten der kontrollierenden, überbeschützenden und abwertenden Haltung unserer Umwelt ausgeliefert.

Sexualitet ist eine Form der Kommunikation, in der man seine Persönlichkeit einem anderen Menschen öffnet. Die Art, in der ich mich darstelle, wird in hohem Maße davon abhängen, wie ich mich selbst sehe. Nur wenn ich mich selbst akzeptiere, respektiere und liebe, kann ich mich anziehend und liebenswert fühlen und Achtung fordern.

Ohne Selbstbewußtsein und Selbstachtung kein selbstbestimmtes Leben. Ohne selbstbestimmtes Leben keine selbstbestimmte Sexualität.

Wien am 24 Juni 1998




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